Der mysteriöse Mystriosaurus

Mystriosaurus Lebendrekonstruktion

Untersuchung des frühjurassischen Meereskrokodils Mystriosaurus laurillardi

von Sven Sachs, Michela M. Johnson, Mark T. Young & Pascal Abel

Mystriosaurus laurillardi ist eines der ersten fossilen Meereskrokodile, die wissenschaftlich beschrieben wurden. Während die Gattung erst 1834 formell benannt wurde, finden sich Erwähnungen des dreidimensional erhaltenen Schädels bereits in Arbeiten ab dem Jahr 1776. Dieser Schädel stammt aus einem Steinbruch im bayerischen Altdorf bei Nürnberg und wurde geborgen von Johann Friedrich Bauder, einem in Altdorf ansässigen Kaufmann und begeisterten Naturalisten, der von 1770 bis 1776 auch Bürgermeister der Stadt war. Die erste wissenschaftliche Erwähnung des Fossils findet sich in der 1776 erschienenen Arbeit von Johann Ernst Immanuel Walch (Walch, 1776), der es korrekt als Schädel eines Krokodils identifizierte. Sein Zeitgenosse Johann Samuel Schröter, wiederum zeigte sich wenig überzeugt von der Klassifizierung Walchs und identifizierte das Fossil als den Schädel eines Ameisenfressers (Schröter, 1780).

Von links nach rechts, Portraits von Johann Friedrich Bauder (1713-1791), Johann Heinrich Merck (1741-1791) und Johann Jakob Kaup (1803-1873). Quelle Wikipedia.
Von links nach rechts, Portraits von Johann Friedrich Bauder (1713-1791), Johann Heinrich Merck (1741-1791) und Johann Jakob Kaup (1803-1873). Quelle Wikipedia.

Wenige Jahre später wurde dann auch niemand geringeres als Johann Wolfgang von Goethe auf den Altdorfer Fund aufmerksam und berichtete auch seinem Freund, den wohlhabenden Darmstädter Naturalisten Johann Heinrich Merck, von eben jenem Fossil. Goethe selbst hatte wohl Pläne den Schädel von Bauder zu erwerben, sein Freund Merck kam ihm aber dann allerdings zuvor. Nachdem sich der Fund in Mercks Besitz befand, veröffentlichte dieser 1786 schließlich einen kurzen Bericht über den Schädel und verglich ihn mit dem des heutigen Ganges-Gavials (Merck, 1786). Als Merck im Jahre 1791 starb, gelangte das Fossil ein Jahr später in den Besitz von Landgraf Ludwig X., der es dem Naturalienkabinett von Darmstadt, dem Vorläufer des heutigen Hessischen Landesmuseums zuführte.

Mystriosaurus laurillardi Schädel in Seitenansicht
Holotyp von Mystriosaurus laurillardi (HLMD V946-948) von der Seite gesehen. Oben: Zeichnung von Kaup in Bronn (1837). Unten: Foto des Fossils. [Zum vergrößern anklicken]

Verschiedene Wissenschaftler, darunter auch Cuvier (1825), erwähnten in den darauffolgenden Jahren den Altdorfer Schädel bis ihn schließlich Johann Jakob Kaup, zu dieser Zeit Assistent im Naturalienkabinett von Darmstadt, Mystriosaurus laurillardi nannte. Der Schädel befindet sich heute in der Sammlung des Hessischen Landesmuseums in Darmstadt unter der Katalognummer HLMD V946-948.

Steneosaurus bollensis Schädel
Schädel von Steneosaurus bollensis (MMG BwJ 565, Senckenberg Naturhistorische Sammlungen Dresden), dorsal gesehen. [Zum vergrößern anklicken]

Viele Publikationen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts akzeptierten Kaups Mystriosaurus als eine valide Gattung. Doch kam der in Tübingen ansässige Paläontologe Frank Westphal in 1961 und 1962 veröffentlichten Revisionen der frühjurassischen Teleosauroideen zu dem Schluss, dass es sich bei Mystriosaurus laurillardi um ein Synonym des bereits von Jäger (1828) benannten Steneosaurus bollensis handle. Diese Schlussfolgerung gründete sich maßgeblich auf den Merkmalen, die von Kaup in Bronn & Kaup (1842) benannt wurden. Dennoch erkannte selbst Westphal Unterschiede zwischen dem Schädel von Mystriosaurus und denen von anderen Steneosaurus-Exemplaren, so erwähnte er die nach unten hin ausladende Schnauzenspitze im Altdorfer Schädel, die laut Westphal den ungewöhnlichsten Fall von allen Steneosaurus-Schädeln darstellte. Nichtdestotrotz wurde Westphals (1961, 1962) Klassifizierung in keiner der nachfolgenden Arbeiten über die Teleosauroideen des Europäischen Juras angezweifelt.

Mystriosaurus Schädel von oben gesehen
Die Schädel von Mystriosaurus in dorsaler Ansicht. Oben: Typusexemplar (HLMD V946-948). Unten: Schädel von Whitby (NHMUK PV OR 14781) [Zum vergrößern anklicken].

Im Jahr 2018 jedoch betrachtete unser Team das Typusexemplar von Mystriosaurus in Darmstadt neu und kam zu einer gänzlich anderen Schlussfolgerung, die von uns nun im Fachjournal Acta Palaeontologia Polonica veröffentlicht wurde (Sachs et al., 2019).

Neubetrachtung von Mystriosaurus

Nasenöffnungen von Mystriosaurus und Steneosaurus im Vergleich
Vergleich der Nasenöffnungen von Mystriosaurus laurillardi (HLMD V946-948, links oben, NHMUK OR 14781, links unten) mit denen von Steneosaurus bollensis (RE 551.762.130 A 0248 - Ruhr Museum Essen, rechts).

Während unserer Untersuchung war es uns möglich einen zweiten Fund Mystriosaurus zuzuordnen. Dieses Exemplar ist ein weiterer, sogar noch vollständigerer und dreidimensional erhaltener Schädel auf dem britischen Whitby, der sich unter der Katalognummer NHMUK PV OR 14781 im Natural History Museum in London befindet. Auch dieser Schädel ist ein historischer Fund. Er wurde vom damaligen British Museum im Jahre 1840 erworben, allerdings ist nicht klar wann und vom wem das Fossil gefunden wurde. Der Schädel wurde lange Zeit als Teleosaurus brevior bezeichnet, ein in einem Manuskript verwendeter Name, der von dem britischen Anatom Richard Owen aufgestellt wurde (siehe Blake, 1876 und Woodward, 1885). Blake ordnete in seiner 1876 erschienenen Publikation diesen Schädel ebenfalls Steneosaurus zu und beschrieb ihn als Steneosaurus brevior. Der deutsche und britische Schädel teilen sich eine Reihe von Schlüsselmerkmalen, darunter: eine ähnliche Schnauzenlänge, vier Zähne im Prämaxillare, sowie eine identische, nach vorne gerichtete Nasenöffnung. Letzteres ist ein Merkmal, das äußerst selten bei Krokodilartigen vorkommt, so befindet sich bei beinahe allen heutigen und fossilen Arten die Nasenöffnung auf der Oberseite der Schnauze.

Schädel von Mystriosaurus (vormals Steneosaurus brevior) in Seitenansicht
Zweiter Schädel von Mystriosaurus laurillardi (NHMUK PV OR 14781), ursrpünglich beschrieben als Steneosaurus brevior. Das Fossil wurde in Whitby gefunden (Yorkshire, UK). [Zum vergrößern anklicken]

Zusätzlich zu diesen Merkmalen verfügt der britische Schädel außerdem über: eine stark ausgeprägte Ornamentierung mehrerer Knochen der Schnauze und des Schädeldachs, zahlreiche neurovaskulare Öffnungen auf Prämaxillare, Maxillare und Dentale sowie einzigartig geformte Antorbital- und Schläfenfenster. Diese Merkmale sind ebenfalls diagnostisch für Mystriosaurus und unterscheiden die beiden Schädel von allen anderen bekannten Krokodilen, einschließlich Steneosaurus bollensis.

Schädelrekonstruktion von Mystriosaurus
Rekonstruktion des Schädels von Mystriosaurus laurillardi in dorsaler (oben) und ventraler Ansicht (unten). Illustration von Julia Beier (Hamburg). [Zum vergrößern anklicken]

Zusammenfassung

Mystriosaurus laurillardi ist ein über vier Meter langes Meereskrokodil mit einer mesorostrinen Schnauze (also einer Schnauze, die etwa 55–70 % der gesamten Schädellänge entspricht). Er lebte im Unterjura während des frühen Toarciums (vor etwa 182 Millionen Jahren) an den Küsten der Gegend, die später Deutschland und England werden sollte. Die Mystriosaurus lässt sich von anderen gleichzeitig lebenden Meereskrokodilen wie Steneosaurus bollensis anhand von mehreren Merkmalen unterscheiden, darunter die vorwärts gerichtete Nasenöffnung.

Mystriosaurus Schädel im Urweltmuseum Hauff in Holzmaden
Schädel von ?Mystriosaurus sp. aus Holzmaden (Baden-Württemberg). Sammlung Urweltmuseum Hauff in Holzmaden. [Zum vergrößern anklicken]

Neben dem Altdorfer Typusexemplar und dem Schädel von Whitby (Holotyp von „Steneosaurusbrevior) können wir außerdem unter Vorbehalt ein weiteres Exemplar aus dem baden-württembergischen Holzmaden Mystriosaurus zuordnen. Dieses Fossil umfasst einen vollständigen Schädel, der sich in einer Posidonienschieferplatte befindet und im Urweltmuseum Hauff in Holzmaden ausgestellt wird. Nun, nach einem Vierteljahrtausend, konnte das Geheimnis um Mystriosaurus gelöst werden.

Lebendrekonstruktion von Mystriosaurus
Lebendrekonstruktion von Mystriosaurus. Illustration von Julia Beier (Hamburg). [Zum vergrößern anklicken]

Literatur

 

Blake, J.F. (1876) Reptilia. In: R. Tate and J.F. Blake (eds.), The Yorkshire Lias, 243–254. John van Voorst, London.

Cuvier, G. (1825) Recherches sur les ossemens fossiles. 3ème édition. 547 pp. Dufour et d’Ocagne, Paris.

Jäger, G.F. (1828) Über die fossile Reptilien, welche in Württemberg aufgefunden worden sind. 48 pp. J.B. Metzler, Stuttgart.

Kaup, J.J. (1834) Verzeichniss der Gypsabgüsse von den ausgezeichnetsten urweltlichen Thierresten des Grossherzoglichen Museums zu Darmstadt. 28 pp. Diehl, Darmstadt.

 

Kaup, J.J. (1841) Über Mystriosaurus-Reste aus dem Lias-Kalk von Altdorf. In: G. Bronn and J.J. Kaup (eds.), Abhandlungen über die gavial-artigen Reptilien der Lias-Formation. 47 pp. E. Schweizerbart‘sche Verlagshandlung, Stuttgart.

Merck, J. (1786) Von dem Krokodil mit dem langen Schnabel, Crocodilus maxillis elongatis teretibus fubcylindricis Gronov. Hessische Beiträge zur Gelehrsamkeit und Kunst 5–7, 73–87.

Sachs, S., Johnson, M.M., Young, M.T., & Abel, P. (2019) The mystery of Mystriosaurus: Redescribing the poorly known Early Jurassic teleosauroid thalattosuchians Mystriosaurus laurillardi and Steneosaurus brevior. Acta Palaeontologica Polonica 64 (3), 565–579.

Schröter, J.S. (1780) Von dem vermeintlichen Kopfscelet eines Crocodills. Journal für die Liebhaber des Steinreichs und der Konchnliologie 6, 522–530.

Walch, J.E.I. (1776) Von dem versteinerten Kopfscelet eines Crocodills. Der Naturforscher 10, 279–284.

Westphal, F. (1961) Zur Systematik der deutschen und englischen Lias-Krokodilier. Neues Jahrbuch für Geologie und Paläontologie 113, 207–218.

Westphal, F. (1962) Die Krokodilier des deutschen und englischen oberen Lias. Palaeontographica A116, 23–118.

Woodward, A.S. (1885) On the literature and nomenclature of British fossil Crocodilia. Geological Magazine 3, 496–510.

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